Die Jubelfeier von Graudenz

Graudenz, 21. Juni. Eine solch glänzendes Festgepräge hat wohl selten eine Provinzialstadt gesehen, wie heute Graudenz zur Feier des 600jährigen Bestehens der Stadt. Aus der ganzen Provinz waren Tausende und Abertausende von Gästen herbeigeeilt, um den großartigen historischen Festzug zu sehen, der am Nachmittag durch die Straßen der Stadt zog. Es war ein herrliches Schauspiel, wie es sonst nur eine Residenz bietet. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft veranschaulichte der Zug in zahlreichen Gruppen, Festwagen, Abtheilungen, 2000 Meter lang zog er sich hin mit seltener Fülle farbenreicher Abwechslung, in künstlerischer Gestaltung und von erhebender Wirkung.

Bannerträgern, Herolden, Trompetern in bunter Tracht folgten sämmtliche Knabenschulen von den Volksschulen bis zum Gymnasium und Lehrerseminar – unsere Schule, die Zukunft. Mächtig ergreifende Bilder aus der Vergangenheit zeigten die nächsten Abtheilungen; ein Musikkorps zu Pferde (sämmtliche Musikkorps in Regimentsuniform oder in den Trachten der Zeit) leitet die Gruppe ein: Graudenz unter der Herrschaft der deutschen Ordensritter. Auf mächtigem Hengste ritt Komthur Günther von Schwarzburg, gefolgt von zahlreichen Ordensrittern und Halbbrüdern vom deutschen Hause, ein Zug von Kolonisten mit Sack und Pack zur Besiedelung von Graudenz schloß die Gruppe, dann folgte Graudenz unter polnischer Herrschaft, polnische Edelleute und Frauen in glänzender Pracht zu Pferde, auch ein Jesuit fehlte nicht, den Schluß bildete der Rath und die Schöffen der Stadt Graudenz.

Eine herrliche Abtheilung hatte der Kriegerverein Graudenz gestellt, unter der besonders Friedrich der Große hervorleuchtete, unaufhörlich mit dem Krückstock Dank winkend – siehe Anmerkung unten. Den wackeren Kommandanten de Courbiere mit Stab und Soldaten stellte die Schützengilde, dann folgt das Graudenz der Gegenwart. In Berlin und Westdeutschland sind, wie ja bekannt ist, recht irrthümliche Ansichten über den Osten und zumal über die Industrie unserer Provinz verbreitet, man glaubt, daß hier nur Agrarier wohnen. Wie bedeutend die Industrie der Stadt Graudenz ist, das konnte man z. B. auch in der dritten Abtheilung des Festzuges gewahren. Eine der bedeutendsten Firmen, seit wenigen Jahren erst auf dem Plan, ist z. B. die hiesige Maschinenfabrik, deren Spezialität, der Normalpflug, seinen Siegeslauf durch die ganze ackerbautreibende, civilisierte Welt nimmt. Der Wagen dieser Weltfirma war von entzückender Pracht und Präcision. Er führte u. A. einen Pflug von so riesenhaften Dimensionen, daß zwischen den Rädern und Schaaren sieben emsig beschäftigte Gnomen sitzen konnten. Ebenfalls sehr wirksam war die von den Weltausstellungen bekannte große hiesige Bürstenfabrik vertreten; auf einem prächtigen Wagen wurde eine Riesenbürste von mehreren Metern Länge geführt. –

Etwa 20 Festwagen fuhren im Zuge und mehrere Tausend Personen, aus den zahlreichen Vereinen, Gewerkschaften, Klubs der Stadt Graudenz zusammengesetzt, boten ein herrliches und abwechslungsreiches Bild. Ein Oberregierungsrath aus Danzig war im Auftrage des Kaisers heute früh in einer gemeinsamen Sitzung des Magistrats und der Stadtverordneten anwesend und verlieh im Allerhöchsten Auftrage dem Ehrenbürger der Stadt, Herrn Stadtrath Gäbel, den Rothen Adlerorden. Zahlreiche Vereinsfeste von vielen Tausenden besucht, und Volkskonzerte hielten dann die Festtheilnehmer noch lange beisammen.

Anmerkung. Friedrich der Große besuchte 1772 die Stadt Graudenz und hat bekanntlich auch die Feste erbaut, ungefähr zwei Kilometer von der Stadt Graudenz entfernt. Stadt und Festung Graudenz sind zwei verschiedene Orte, was immer noch nicht genügend bekannt zu sein scheint. Courbiere, (Wilhelm René de l’Homme de Courbière), der Vertheidiger der Feste 1807, hat nicht auf die Aufforderung zur Uebergabe erwidert: Nun dann werde ich König von Graudenz sein, wie es in den Lesebüchern und Geschichtsbüchern irrthümlich steht und auch neulich im Berliner Tageblatt, sondern er hat gesagt, „wenn Se. Majestät auch nicht mehr König von Preußen ist, so ist er doch noch König von Graudenz“.

(Schreibweise original). Juli 1891.

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