1890. Provinz Posen, ein Dorf nahe Wollstein im Kreis Bomst. Ein junger Mann voller unbändiger Lebensfreude beschließt, seine Heimstatt für immerdar zu verlassen. So bricht er also auf, in eine ungewisse Zukunft und wandert nach Australien aus. Noch im gleichen Jahr folgt ihm sein Bruder und nicht viel später zwei weitere Brüder. Auch sie folgen ihm nach Australien. Zurück bleiben in der Heimat die traurigen Eltern, eine Schwester und der jüngste Bruder. Letzterer wird sein Leben leben, stolz und erfolgreich – bis ein absurder Krieg im Jahre 1945 auch ihn zwingt, die jahrhundertealte Wiege seiner Vorfahren den Rücken zu kehren. Über 100 Jahre nach seiner Geburt wird er mein Urgroßvater werden. Ich bin geneigt anzunehmen, daß die ausgewanderten Brüder – bis auf einen – ihre Eltern und ihre Heimat nie wieder sahen. Was mögen die armen Eltern empfunden haben? Ihre geliebten Kinder für immer in die Fremde zu entlassen, bar jeder Hoffnung auf ein Wiedersehen? Für ein ganzes Leben? Ja, es wurde wohl ein Abschied für das Leben. Wehmütig vergeht die Zeit…
Mit den Brüdern, mit den Jahren und mit den Generationen verschwand im Zeitenfluß der Vergänglichkeit das Wissen um ihre Existenzen und ihre ureigenen Lebenswege. Eine Legende innerhalb der Familie entstand, verschwamm im grauen Nebelschleier der Zeit. Eine alte Tante sprach, „Irgendjemand ist mal ausgewandert, vielleicht nach Australien. Aber wer war das genau?“. Niemand wußte es mehr. Und wer konnte schon mit Sicherheit konstatieren, daß das der Wahrheit entsprach? Bevor ich jene Tante adäquat befragen durfte, verschloß das Leben diese Tür endgültig.
2004. Ein banaler Zufall sorgt dafür, daß ich zum Ahnenforscher werde. Es bedarf nicht viel Zeit und ich verliere mich in jener Thematik und betreibe die Genealogie mit Hingabe. In den nächsten Jahren beschäftige ich mich intensiv mit der Familie und kann viele Geheimnisse lösen, erkenne mannigfaltige Verbindungen; finde prominente Vertreter innerhalb der Familie – von denen niemand wußte – und löse Rätsel – die ich so in dieser Form immer noch fast für unmöglich halten würde, wenn ich das nicht selbst erlebte. Ja, das Leben hat Recht.
2014. Erneut lenkt der Zufall mein genealogisches Auge. Ich finde im Internet genealogische Daten einer australischen Forscherin, die ich mit meinen Beständen abgleiche und finde somit den ersten Hinweis auf einen ausgewanderten Bruder meines Urgroßvaters. So nimmt die nebulöse Legende also doch reale Konturen an. Ich schreibe die Dame unverzüglich an und bin überrascht, als sie auch wirklich antwortet. Von deutschen weitläufig Verwandten kenne ich das anders. In den nächsten zwei Jahren entsteht ein sehr herzlicher Kontakt und ja, ich kann die verwandtschaftliche Verbindung fühlen – hinweg über Zeit und Raum. Wir sind schließlich die Nachfahren einer Familie, ja, wir s i n d eine Familie.
2016. In gut drei Wochen wird der bedeutendste Moment in meiner Forschung auf mich hernieder fallen. Nach 126 Jahren der familiären Trennung und Etablierung eines australischen Zweiges werden sich die Nachfahren der einstigen Auswanderer und der Zurückgebliebenen persönlich begegnen. Nach all der Zeit wird die Familie temporär vereint sein. Was gäbe ich dafür, wenn das jene Eltern von 1890 beobachten dürften, was würden sie dazu sagen? Als sie ihre Söhne ziehen sahen, hinterdrein winkten und sich weinend umarmten. Wir sind alle nur Gefangene der Zeit, doch in Kürze werden sich ihre Nachfahren umarmen. So schließt sich der Kreis. Nach all den Jahren, nach all den Jahren. Familie bleibt Familie.